Ein denkwürdiger 20. Februar 2020 in Schwaan

Am Morgen des 20. Februar versammelten sich etwa 60 Menschen aller Generationen vor dem Wohnhaus Pferdemarkt 7, um der Schwaaner Bürger Willi, Paula und Alice Marcus zu gedenken, die durch die faschistische Rassenpolitik allein wegen ihrer jüdischen Herkunft systematisch und gewaltsam aller bürgerlichen Rechte und ihres Lebens beraubt wurden.

Willi, seine Frau Paula und die Schwester Alice Marcus wurden am 10. Juli 1942 mit einem Sammeltransport von Schwaan nach Ludwigslust verbracht und dort interniert. Am 11.Juli wurden sie und 90 weitere mecklenburgische Juden von dort in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und nach Ankunft am 12. Juli ermordet.

Willi Marcus war 53 Jahre alt, 5 Tage später wäre sein 54. Geburtstag gewesen. Seine Frau Paula wurde nur 49 Jahre alt. Seine Schwester Alice hatte gerade das 44. Lebensjahr erreicht.

Die kleinen Messingplatten im Gehweg vor ihrem letzten selbstgewählten Wohnort -Stolpersteine- wollen Passanten gedanklich zum Stolpern, Innehalten undNachfragen veranlassen. Seit 1992 werden diese Denkmale europaweit von ihrem Initiator, dem Künstler Gunter Demnig und seiner Stiftung SPUREN verlegt. Gunter Demnig war zum zweiten Mal in Schwaan, denn auch den Stolperstein für den Arzt Dr. Paul Marcus, Bruder von Willi und Alice Marcus, hat er im Frühjahr 2014 an gleicher Stelle verlegt. Die drei neuen Stolpersteine am Pferdemarkt 7 wurden finanziert durch Spenden von Schülern der Klassen 6 und 8 der „Prof. Franz-Bunke-Schule“ Schwaan und Schülern der „Schule am Schwanenteich“ Rostock, von Rosita Mewis, Günther Wimbert,Constanze und Peter Klein und Peter Ahrens. Herr Wimbert sprach eindruckvoll über die Beweggründe für seine Spende.

Gunter Demnig verlegt die Stolpersteine  am Pferdemarkt 7

Der Schwaaner Kulturförderverein e.V. initiierte das Projekt Stolpersteine, doch seit Oktober2019 waren die Lehrerinnen Kerstin Ahrens, Maren Lüth, Sabrina Eyking, der Schulleiter Hans-Ulrich Pabusch mit Schülern der 6. und der 8. Klasse der hiesigen „Prof.-Franz-Bunke-Schule“ bei seiner Umsetzung energie- und ideenreiche Partner. Unter dem Aspekt der Inklusion waren auch Förderschüler der Rostocker „Schule am Schwanenteich“ mit ihrer Lehrerin Diana Martens an diesem Projekt beteiligt. Tim Martens aus Zeez, Schüler der 10. Klasse der „Prof.-Franz-Bunke-Schule“ stand Gerd Koppitz bei Filmaufnahmen während der gesamten Zeit zur Verfügung.Von Seiten des Kulturfördervereins begleiteten Gerd Koppitz und Hella Ehlers das vielgestaltige Projekt und haben viel von und mit den Schülern gelernt!

Neben der Sachinformation über die Schwaaner jüdischen Kaufmannsfamilien Marcus und Josephymachten die Schüler Erkundungen an deren vormaligen Geschäfts- und Wohnhäusern, am Jüdischen Friedhof Schwaan und der früheren Synagoge. Bei einer Exkursion lernten sie das Max-Samuel-Haus. Begegnungsstätte für jüdische Geschichte und Kultur Rostock und die Synagoge der Jüdischen Gemeinde Rostock kennen.

An Projekttagen in Schwaan stellten die beteiligten Schüler künstlerische Arbeiten zum Thema her. Schüler der 6. Klasse bastelten unter Anleitung ihrer Lehrerin Kerstin Ahrens Lapbooks. Aus diesenmehrfach aufklappbaren Bastel-Büchern erfährt der Betrachter viel über Geschichte des Judentums und seine Kultur bis hin zur Verfolgung und Ermordung der Juden 1933- 1945.

Die Gruppe um Textilkünstlerin Asta Rutzke nähte und gestaltete Banner, hängende „Stolpersteine“,zum Thema Ausgrenzung, Anderssein, Antisemitismus und Gewalt. Maler Karl- Michael Constien hat eine weitere Gruppe zu vier großflächigen Graffiti-Tafeln angeleitet, die das Thema Ausgrenzung, Umweltzerstörung und Aufruf zur Rettung unserer Welt bildlich umsetzten. Diese Tafeln werden im Hofraum der Schule installiert. Unter sensibler Führung durch Rando Trost entstand während einer Woche auf der Grundlage von Zeitdokumenten ein beeindruckendes „Schwaaner Stolperstück“. In diesem Hörspiel spüren Schüler der 8. Klasse den Stunden vor und am Tage der Deportation von Willi, Paula und Alice Marcus nach und verleihen ihnen eine Stimme. Idee und Text stammen von Maren Lüth.

Die Schüler stellten ihre Arbeiten im Anschluss an die Einweihung der Stolpersteine in einer Gedenkveranstaltung im Kunstraum der Schule einem großen Publikum vor. Dieser Tag bekam durch die Anwesenheit von Albrecht Josephy- Hablützel und seiner Frau Susann eine ganz besondere Prägung. Der 93-jährige Albrecht, dessen Vorfahren als jüdische Kaufleute seit dem frühen 18.Jahrhundert bis Ende des 19. Jahrhunderts in Schwaan lebten und wirkten, war bereits zum dritten Mal als „Zeitzeuge“ hier zu Gast und beeindruckte die Anwesenden mit seiner Lebenserzählung. Wir hörten von seiner Erinnerung an die Reichspogromnacht 1938 in Rostock, in der das Elternhaus von den Nazis verwüstet wurde, vom Tod seines Vaters, Rechtsanwalt Dr. Richard Josephy, beim Bombenangriff auf Rostock 1944. Als Jude war dem Vater der Aufenthalt imLuftschutzbunker verboten. Albrecht und seine jüngeren Schwestern wurden im November 1938 in die Schweiz in Sicherheit gebracht. Dort lebt er seitdem sein „zweites“ Leben. Es hat viele Jahre des Abstands gebraucht, bis er wieder deutschen Boden betreten hat. In Rostock, Schwaan und Mecklenburg-Vorpommern haben er und seine Frau, Kinder und Enkel viele Freunde gefunden.

Albrecht Josephy-Hablützel bei seinem Lebensbericht im Kunstraum der Schule.

Fast 78 Jahre trennen uns vom 10.Juli 1942, einem warmen Sommertag in Schwaan, der für Willi, Paula und Alice zur Reise in den Tod wurde. Doch immer noch – schon wieder- müssen wir uns mitAusgrenzung, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus in unserem Alltag auseinander setzen. Die wirklich beeindruckenden und bleibenden Arbeiten der Schüler sind neben den Stolpersteinen ein Stück Erinnerungsarbeit, die alle daran Beteiligte in mehreren Hinsichten bereichert hat.

Besonders erfreulich ist, dass sich die Jugendlichen mit dem Projekt identifizierten und zu ihrer Angelegenheit machten. Namen, Personen und Lebenswege der Familien Marcus und Josephy werden auch durch sie weiter getragen werden.

Die Veranstaltungen wurden von Thomas Braun (Violine) und Sebastian Sarfert (Kontrabaß) musikalisch würdevoll begleitet. Ingo Braun vom Studio Birkenhain Neu Wiendorf war mit seiner Kamera wieder dabei. Wir freuen uns auf den Film, den er, Dr. Gerd Koppitz und Tim Martens aus dem umfangreichen Material zum Stolpersteinprojekt produzieren werden.Facit: Das Projekt hat viele engagierte Menschen unserer Stadt und der Region zusammen geführt und Geschichte erlebbar werden lassen.

Hella Ehlers – Schwaaner Kulturförderverein e. V.

Fotos: Gerd Koppitz; Ingo Braun